Ist das westliche Demokratiemodell ein Vorbild für die Welt?

Teil 1

Leuchtende Demokratien stehen düsteren Autokratien gegenüber. Das ist das Narrativ des westlichen Mainstreams, in gewohnten Bahnen alter eurozentristischer Überheblichkeit. Der Autor dieses Artikels ist der Sache nachgegangen und hat dabei festgestellt, dass in vielen Ländern des globalen Südens einzigartige Formen der Demokratie und partizipatorischer Prozesse entstanden sind, die sich von den sklerotischen bürgerlichen Systemen westlicher Länder unterscheiden.

von Ricardo Martins, 19. Oktober 2024

Symbolbild

Es ist mittlerweile alltäglich geworden, Debatten über Demokratie versus Autokratie zu hören oder zu lesen. Sie werden implizit oder explizit von Werturteilen begleitet, die die Überlegenheit der einen Form behaupten und die andere herabwürdigen. So wird suggeriert, dass es zum „westlichen» Demokratiemodell keine Alternativen gibt, wie eine westliche Studie feststellte .

Aus der Perspektive des Globalen Südens gibt es zahlreiche Beispiele für partizipative Demokratie, die man im Westen nicht findet.

Ich frage mich jedoch, ob die westlichen Demokratien noch immer als Vorbilder für die Welt dienen können. Ich nehme in ihren Narrativen viele Doppelstandards wahr, die an Propaganda grenzen, und es besteht eine wachsende Kluft zwischen den Menschen und ihren Regierungen in Europa, den USA und anderswo im Westen.

Diese Diskrepanz führt zu einem Vertrauensverlust in die Demokratie und demokratische Institutionen, darunter politische Parteien, Medien und Regierungen, wie eine Dimap-Umfrage in Sachsen zeigt. Infolgedessen gewinnen Rechte und Rechtsextreme im Bereich der politischen Repräsentation an Boden und sind in mehreren europäischen Ländern zur wichtigsten politischen Kraft geworden. In Deutschland gewinnt die rechtsextreme Partei Alternative für Deutschland (AfD) so schnell an Boden, dass im politischen Establishment ein Gefühl der Verzweiflung aufkommt, das Diskussionen über ein mögliches Verbot der Partei auslöst.

Der Zustand der Demokratie im Westen und die Förderung von Diktaturen durch die USA

Vor einigen Monaten behauptete Professor Mark Bovens von der Universität Utrecht: «Heute leben fast drei Viertel der Weltbevölkerung in einer Autokratie und nur 13 % in einer vollwertigen Demokratie unter Rechtsstaatlichkeit.» Mit dieser Aussage bezog sich Professor Bovens speziell auf westliche Länder, darunter die USA, Kanada, Westeuropa, Australien, Neuseeland, Südkorea und Japan. Im zweiten Teil dieses Essays werde ich die demokratischen Mängel einiger westlicher Länder analysieren.

Die USA haben sich lange Zeit als Vorreiter bei der Förderung demokratischer Werte und der Unterstützung demokratischer Bewegungen positioniert. Militärische Interventionen der USA, die Unterstützung autoritärer Regime aus strategischen Gründen oder die Einmischung in die Innenpolitik anderer Länder, um Regimewechsel zu provozieren, wenn eine linke oder sozialistische Regierung gewählt wurde, wie wir es in Lateinamerika oft erlebt haben, werden jedoch als unvereinbar mit ihren demokratischen Idealen angesehen. Dies hat Zweifel an der Aufrichtigkeit und Beständigkeit ihrer Bemühungen zur Demokratieförderung aufkommen lassen.

In der Geschichte Lateinamerikas haben die USA Diktaturen in Ländern wie Guatemala (1954), Brasilien (1964), der Dominikanischen Republik (1965), Chile (1973), Nicaragua (1980) und Grenada (1983) errichtet oder bei deren Errichtung geholfen, ebenso wie im Iran (1953) und anderswo auf der Welt. Gleichzeitig wurde propagiert, dass sie Demokratie und Menschenrechte bringen würden. Mit solch einer widersprüchlichen Darstellung wurde ihre Glaubwürdigkeit für viele in diesen Ländern beschädigt, allerdings nicht für die meisten Europäer, einschließlich der Wissenschaftler, die seltsamerweise an die amerikanische Propaganda glaubten, sie würden „Demokratie bringen».

Eine tiefere demokratische Perspektive im globalen Süden: Partizipative Demokratie

In vielen Ländern des globalen Südens habe ich festgestellt, dass sich einzigartige Formen der Demokratie und partizipatorischer Prozesse herausgebildet haben, die sich von denen unterscheiden, die man normalerweise in westlichen Ländern findet. Hier sind nur einige Beispiele:

Bürgerhaushalt in Brasilien: Der Bürgerhaushalt, der 1989 in Porto Alegre seinen Anfang nahm, ist ein demokratischer Prozess, bei dem die Gemeindemitglieder direkt darüber entscheiden, wie Teile des öffentlichen Haushalts verteilt werden. Dieser Ansatz hat die Bürger gestärkt, insbesondere in Randgruppen, und wurde von Tausenden anderer Städte und Länder übernommen.

Lokale Verwaltung in Kerala, Indien: Kerala hat ein robustes Modell der lokalen Selbstverwaltung umgesetzt, bei dem erhebliche Mittel und Entscheidungsbefugnisse an lokale Panchayats (Dorfräte) übertragen wurden. Dieses Modell betont die Beteiligung der Basis und hat zu erheblichen Verbesserungen der sozialen Indikatoren geführt. Darüber hinaus macht Indien bei der Schaffung von Online-Plattformen für die Bürgerbeteiligung und den Zugang zu Dienstleistungen rasche Fortschritte.

Autonomie der indigenen Völker in Bolivien: Die Verfassung Boliviens aus dem Jahr 2009 erkennt das Recht der indigenen Völker auf Selbstverwaltung und gemeinschaftlichen Landbesitz an. Dies hat eine Form der partizipativen Regierungsführung ermöglicht, bei der indigene Gemeinschaften gemäß ihren Bräuchen und Traditionen bei der lokalen Regierungsführung und Ressourcenverwaltung mitreden können.

Baraza-System in Tansania: In einigen Teilen Tansanias spielt das traditionelle Baraza-System, bei dem Gemeindeversammlungen stattfinden, bei denen alle Mitglieder eine Stimme haben, noch immer eine Rolle bei der Entscheidungsfindung. Diese gemeinschaftliche Beteiligung stärkt den sozialen Zusammenhalt und die gemeinsame Problemlösung.

Barangay-Versammlungen auf den Philippinen: Die Barangay-Versammlungen (Dorfversammlungen) sind Basisversammlungen, bei denen die Bewohner über lokale Themen diskutieren und abstimmen können. Diese Form der partizipativen Demokratie ermöglicht es den Bürgern, sich direkt an lokalen Regierungsvorgängen zu beteiligen.

Dorfkomitees in China: In China ist die Wahl von Dorfkomitees in ländlichen Gebieten eine Form der partizipativen Demokratie. Diese Komitees sind für die Verwaltung lokaler Angelegenheiten verantwortlich und werden von den Dorfbewohnern gewählt. Diese lokalen Wahlen bieten ein gewisses Maß an Beteiligung der Basis und geben den Dorfbewohnern eine Stimme bei ihrer unmittelbaren Regierungsführung und Gemeindeentwicklung. Darüber hinaus muss ein hochrangiger Bürokrat auf lokaler Ebene beginnen und seine Verwaltung erfolgreich und genehmigt gestalten, um weitere Fortschritte zu erzielen.

Bezirksausschüsse in Südafrika: Die gemäß dem Municipal Structures Act (1998) eingerichteten Bezirksausschüsse sollen die partizipative Regierungsführung auf lokaler Ebene verbessern. Jeder Ausschuss besteht aus gewählten Vertretern der Gemeinde, die eng mit den Gemeinderäten zusammenarbeiten, um Beiträge zu lokalen Themen, Entwicklungsprojekten und Dienstleistungen zu liefern. Diese Ausschüsse dienen den Bewohnern als Plattform, um ihre Bedenken zu äußern, Ideen auszutauschen und mit lokalen Regierungsvertretern zusammenzuarbeiten, wodurch eine stärkere Beteiligung der Gemeinde an Entscheidungsprozessen ermöglicht wird.

Partizipative Stadtplanung in Curitiba, Brasilien: Curitiba ist bekannt für seine innovative Stadtplanung und partizipative Verwaltungsinitiativen, einschließlich der Entwicklung des öffentlichen Nahverkehrs. Öffentliche Versammlungen und Planungsforen (persönlich und online) ermöglichen es den Bürgern, Ideen und Feedback einzubringen, die wesentlich zur Gestaltung von Curitibas effizientem und nachhaltigem Busschnellverkehrssystem sowie Gesundheits- und Bildungsdiensten beigetragen haben. Darüber hinaus hat Curitiba partizipative Budgetprozesse eingeführt, damit die Bürger mitbestimmen können, wie Teile des Stadtbudgets ausgegeben werden. Auch wenn ich in Europa lebe, beteilige ich mich in meiner Nachbarschaft noch an diesen Prozessen.

Zusammenfassend möchte ich aus der Perspektive des Globalen Südens darauf hinweisen, dass es zahlreiche Beispiele für partizipatorische Demokratie gibt, die man im Westen nicht findet. Im akademischen Bereich komme ich aus einer Tradition, in der der Rektor und die Abteilungsleiter an öffentlichen, föderalen Universitäten von drei Gruppen gewählt werden: Studenten, technisches/bürokratisches Personal und Fakultät (jede Gruppe hat eine Stimme).

Es gibt viele Probleme mit der Gesundheit der westlichen Demokratien, einer Art Sklerose, die es schwierig macht, sie als das endgültige demokratische Modell zu bezeichnen. Ja, ein demokratisches Regime kann in dem Sinne «sklerosiert» werden, dass es starr, reaktionslos und weniger wirksam bei der Vertretung seiner Bürger wird, was letztlich zu einem Rückgang der demokratischen Qualität und Praxis führt. Dies wird im zweiten Teil dieses Essays untersucht.
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Ricardo Martins ist PhD in Soziologie, spezialisiert auf Politik, europäische und Weltpolitik sowie Geopolitik, insbesondere für das Online-Magazin «New Eastern Outlook», von dem dieser Text übernommen wurde.

https://journal-neo.su/2024/10/19/are-western-democracies-a-model-for-the-world-part-1/