Sebastian Bahlo, Vorsitzender des Deutschen Freidenker-Verbandes
Die Frage impliziert, daß sich die Aufgaben der Freidenkerbewegung mit der Zeit geändert haben. Nicht geändert haben sich die allgemeinen Ziele der Freidenker – und ich verstehe das Wort immer synonym mit sozialistischen Freidenkern, denn mit den bürgerlichen Atheisten und Religionskritikern kann es über punktuelle Zusammenarbeit hinaus keine dauerhafte gemeinsame theoretische und strategische Grundlage geben – das oberste Ziel war und ist die Überwindung der durch die Klassengesellschaft bedingten Selbstentfremdung des Menschen, darunter ordnen sich die Teilziele Propagierung der Aufklärung, Religionskritik, Kampf gegen die gesellschaftliche Macht der Kirchen, Kampf gegen ökonomische Ausbeutung, für politische Freiheit, Kultivierung eines Vereinslebens, das die Mitglieder geistig und kulturell erfüllt und ihnen Freundschaft und Geselligkeit bietet.
Diese Ziele bleiben, aber auf welchem Wegwir den größten Beitrag zur Erreichung dieser Ziele leisten können, variiert in Abhängigkeit von äußeren Umständen. Es ändert sich mit dem gesellschaftlichen Bewußtsein, und dieses hängt von der allgemeinen Entwicklung der Menschheit ab. Es könnte scheinen, daß einige Ziele der Freidenkerbewegung hier in Westeuropa zu einem solch hohen Grad verwirklicht sind, daß wir geradezu überflüssig geworden sind: Die Rolle der Religion wird zusehends schwächer, und über naturwissenschaftliche Thesen wird selbst der Bildungsfernste schon vom Frühstücksfernsehen informiert. Aber dieser Schein trügt ganz gewaltig.
Ich will die Frage in einen historischen Zusammenhang stellen, der gerade das Thema dieser Konferenz betrifft. Mit der Entwicklung des Kapitalismus zum Imperialismus trat in den entwickelten kapitalistischen Ländern allmählich eine Degeneration der Arbeiterklasse ein, die Friedrich Engels in bezug auf England mit den Worten erklärte: „die Arbeiter zehren flott mit von dem Weltmarkts- und Kolonialmonopol Englands“. Der Klassenkampf begann sich in diesen Ländern tendenziell immer weniger darum zu drehen, den Kapitalisten einen Teil des selbst geschaffenen Produkts abzutrotzen, und immer mehr darum, mit ihnen um die Dividende der imperialistischen Ausbeutung zu feilschen. Nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkte sich diese Tendenz noch weiter, da die innerimperialistischen Gegensätze langfristig eingefroren wurden, (wenn auch natürlich nicht absolut), und ein recht einheitlicher imperialistischer Block unter Führung der USA die Welt dominierte. Eine auf den ersten Blick ähnliche Tendenz läßt sich aber auch in vielen ausgebeuteten Ländern erkennen: Um unter den Bedingungen des Imperialismus überhaupt als Nationalstaaten existieren zu können, oder gar aktiv ihre Souveränität zu verteidigen, benötigen sie ein klassenübergreifendes nationales Bündnis. Auch hier liegt häufig eine Abschwächung des nationalen Klassenkampfes vor. Diese letztere Abschwächung ist aber ganz anderer Natur als die Abschwächung des Klassenkampfes in den imperialistischen Ländern. Während in den imperialistischen Ländern die Abschwächung ökonomisch bedingt ist und eine Degeneration des politischen Bewußtseins hin zum Individualismus mit sich bringt, ist sie in den ausgebeuteten Ländern politisch bedingt und wird von einer Hebung des Massenbewußtseins im Sinne einer nationalen und kollektivistischen Ideologie getragen. Dies ist sozusagen eine Gesetzmäßigkeit des Imperialismus, die natürlich nie in Reinform in Erscheinung tritt. Insbesondere die Existenz sozialistischer Länder ist hier der Einfachheit halber nicht berücksichtigt, macht das Gesagte aber nicht ungültig. Zum Begriff „Abschwächung“: Dieser Begriff ist nicht ganz glücklich und sollte wenn möglich durch einen besseren ersetzt werden. Gemeint ist, daß der Klassenkampf auf das ökonomische Feld beschränkt bleibt und nicht zu politischer Unruhe führt. Ein einfaches Beispiel bietet China: In China ist der Kapitalismus unstreitig die dominierende Wirtschaftsform. Es gibt daher in China auch Klassenkampf, der auch offen ausgetragen wird, einschließlich Streiks. Aber allen Beteiligten ist klar, daß die politische Stabilität des chinesischen Staates den unverrückbaren Rahmen für diesen rein ökonomischen Klassenkampf bilden muß. Kommt nun jemand und sagt: China ist kapitalistisch, ergo benötigt China eine neue sozialistische Revolution zur politischen Machtergreifung der Arbeiterklasse – solche Idioten machen sich objektiv zu sich superlinks fühlenden Lakaien des Imperialismus.
Offenbar berührt die Frage die Imperialismustheorie und die Frage, wie ein imperialistisches Land zu definieren ist. Es gibt Leute, die setzen stillschweigend die Definition voraus, daß ein großes kapitalistisches Land automatisch als imperialistisch anzusprechen ist und glauben sich dabei auf Lenin berufen zu können – allein, bei Lenin steht nichts dergleichen, es gibt eher Formulierungen, die darauf hindeuten, daß er eine solche Definition abgelehnt haben würde. Zu Lenins Zeit war es allerdings keine Streitfrage, welche Länder imperialistisch waren und die Notwendigkeit einer Definition wurde nicht gefühlt. Das ist heute anders. Für die Frage, ob ein bestimmtes Land als imperialistisch anzusehen ist, schlage ich wenigstens als ein Kriterium vor, ob in seine Politik vom nationalen Interesse oder von den Interessen des Finanzkapitals dominiert wird.
Es ist noch eine Erläuterung angebracht: Auch in den imperialistischen Ländern kann eine bewußte Wahrnehmung nationaler Interessen durchaus fortschrittlich sein. So sind alle Bestrebungen für einen deutschen NATO-Austritt und für die Verteidigung nationaler Souveränität gegen die EU fortschrittlich. Ja selbst in der imperialistischen Führungsmacht, den USA, sehe ich die Losung „America First“ als überwiegend fortschrittlich an, weil sie sich im Kern gegen die Aufgabe nationaler Interessen zugunsten des imperialistischen Bündnisgeflechts richtet. Würde ein solcher nationaler Standpunkt aber im Land bestimmend werden, würde er bald die eigentlichen Profiteure des Imperialismus bloßstellen und paradoxerweise die falsche, nur scheinbare nationale Einheit zerreißen.
Das Herausstellen des Gegensatzes zwischen einer degenerativen nationalen Einigung und einer fortschrittlichen nationalen Einigung erleichtert die Entscheidung, ob eine gesellschaftliche Erscheinung überwiegend fortschrittlich oder überwiegend reaktionär ist. Und ein für uns Freidenker naheliegender Anwendungsfall ist natürlich die Religion. Die Religion – und übrigens sogar ein-und-dieselbe Religion – kann eine fortschrittliche oder reaktionäre Rolle spielen, je nachdem ob sie als wesentlich kollektivistische Ideologie nur zur Bemäntelung des degenerativen Individualismus dient, oder ob sie eine echte Quelle des Kollektivismus darstellt. Ja, selbst die religiöse Überzeugung eines einzigen Individuums kann beide Tendenzen aufweisen. Der Papst kann vormittags etwas fortschrittliches und nachmittags etwas reaktionäres tun. Wir sollten uns deutlich von der Auffassung abgrenzen, daß die Freidenker sich entscheidend durch ihre Gegnerschaft zur Religion definieren. Unsere Weltanschauung hat einen positiven Gehalt, sie bedarf nicht eines Gegenstücks, dessen Nichtsein sie wäre. Unsere kritische Erkenntnis der Religion als eines historisch bedingten, beschränkten und vergänglichen Phänomens darf uns nicht hindern, sie als langlebiges reales Phänomen zu respektieren und insbesondere ihre fortschrittlichen Äußerungsformen zu erkennen. Bei der Zusammenarbeit mit religiösen Kräften für fortschrittliche Zwecke sollten wir uns keinerlei Beschränkungen auferlegen. Wir sollten uns auch noch mehr für religiöse Mitglieder öffnen. Innere religiöse Überzeugung ist mit einer materialistischen Weltanschauung nicht grundsätzlich unvereinbar.
Der Übergang zur multipolaren Weltordnung, über den wir heute ausführlich gesprochen haben, wirkt sich auch auf das Betätigungsfeld der Freidenker aus.
Ich habe vorhin gesagt, daß es eine Gesetzmäßigkeit des Imperialismus ist, daß der nationale Klassenkampf sowohl in den imperialistischen als auch in den ausgebeuteten Ländern abgeschwächt wird, wobei es sich um zwei ganz verschiedene Arten von Abschwächung handelt. In der Tat ist es nun so, daß der Gegensatz zwischen imperialistischen und sich gegen den Imperialismus behauptenden Nationen nur die Transformation des Klassenkampfes auf einer größeren Bühne ist, die Hauptantagonisten sind die Monopolkapitalisten der imperialistischen Nationen und die werktätigen Massen der antiimperialistischen Nationen. Und deshalb ist es auch ganz richtig, in der gegenwärtigen Herausbildung der multipolaren Weltordnung einen revolutionären Prozeß zu sehen. An dieser Stelle ist es geboten, Wladimir Putin zu zitieren: „Der Westen ist nicht in der Lage, die Menschheit im Alleingang zu führen, versucht es aber verzweifelt, und die meisten Völker der Welt wollen sich das nicht länger gefallen lassen. Das ist der Hauptwiderspruch der neuen Epoche. Um es mit den Worten eines Klassikers zu sagen, die Situation ist gewissermaßen revolutionär: die oben können nicht mehr, und die unten wollen nicht mehr.“
Die oben können nicht mehr, sie wollen aber ja noch. Und dieser unfreiwillige Abgang des Imperialismus von der Weltbühne gestaltet sich sehr unangenehm. Immer weitere Eskalation in der Ukraine, beispielloser Wirtschaftskrieg, Dauerpropaganda, Gleichschaltung von Staat und Medien, Kriminalisierung von Protest. Wobei alle diese Dinge in irgendeiner Form schon vor Jahren begonnen wurden, aber seit letztem Jahr treten ihre faschistischen Tendenzen klar zutage. Und das erfordert, unser Selbstverständnis als antifaschistische Organisation zu erneuern und den antifaschistischen Kampf auf die zeitgemäßen Erscheinungsformen des Faschismus und seiner Vorstufen zu fokussieren. Dies schließt auch den Kampf gegen den Pseudoantifaschismus ein, der eine Herrschaftsideologie ist.
Es ist klar, daß ein Freidenkerverband sich selbst bis zur völligen Handlungsunfähigkeit lähmen würde, der in seiner Mitgliedschaft einen Ausgleich zwischen diametral gegensätzlichen Ansichten zum Krieg im Donbass herstellen wollte. In dieser Frage müssen wir unverrückbar unsere Position vertreten, auf die Gefahr hin, daß Einzelne uns verlassen – was nach unserer Erfahrung im Deutschen Freidenker-Verband keine bedeutende Rolle spielt und durch die Menschen, die gerade wegen unserer klaren Positionierung neu zu uns kommen, mehr als aufgewogen wird.
Wir lassen es uns auch nicht nehmen, die grüne Partei als Speerspitze der Kriegspolitik und Faschisierung herauszustellen und zu bekämpfen, und wir wirken mit bei der Propagierung der Losung „Wer Grün wählt, wählt den Krieg“.
Der Kampf für Meinungsfreiheit ist gerade akut notwendig, wo Politik und Staatsanwaltschaften versuchen, kritische Meinungsäußerungen zum Krieg zwischen Rußland und der Ukraine als „Billigung von Straftaten“ zu verfolgen. In einigen Fällen hielt dieser Vorwurf vor Gericht nicht stand, es soll wohl hauptsächlich Angst gemacht werden. Ich sagte neulich beim Unsterblichen Regiment: „Seien wir lieber jetzt mutig, solange uns nur Geld- oder Gefängnisstrafen drohen, bevor Widerstand wieder lebensgefährlich ist“. Es ist aber überhaupt der Skandal anzuprangern, daß eine Meinungsäußerung über einen Krieg zwischen zwei fremden Ländern strafbar sein soll, das ist eine eklatante Verletzung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung, das wir verteidigen müssen.
Es wäre also eine Illusion zu glauben, daß man die Freidenkerbewegung zusammenhalten könnte, indem man um die heiklen, historisch entscheidenden Fragen einen Bogen macht – nein, damit führt man die Bewegung nur der Bedeutungslosigkeit entgegen. Es gibt aber durchaus Fragen, zu denen man sich indifferent verhalten kann und über die man den internen Streit aushalten muß. Das sind oft gerade die Fragen mit dem größten Spaltungspotenzial. So kann in unserem Verband offen darüber diskutiert werden, wie gefährlich ein bestimmtes Virus ist und welche politischen Maßnahmen dagegen ergriffen werden sollten oder nicht ergriffen werden dürfen. Auch über die wissenschaftliche Hypothese der menschengemachten Erderwärmung haben wir entgegengesetzte Positionen. Nicht daß ich der Meinung wäre, es gäbe keine oder mehrere Wahrheiten – aber es herrscht nun einmal Streit darüber, was die Wahrheit ist, und hier handelt es sich um Fragen, in denen die Toleranz gegenüber gegensätzlichen Positionen den Verband zusammenhält und stärkt. Ich unterstreiche, was Guy Dawson vorhin (in bezug auf die Coronapolitik) gesagt hat: Das schlimmste war die Spaltung! Ja, auch ich habe meine Meinung darüber, ob das Virus oder die Maßnahmen mehr Opfer gefordert haben, aber was unseren Verband auszeichnet, ist, daß man bei uns miteinander reden kann, auch wenn man hierzu gegensätzliche Positionen hat, während anderswo Familien darüber zerrissen sind. Jeder zog sich in seine jeweilige Blase zurück, niemand wollte sich die Denkweise der jeweils anderen auch nur anhören. Daß wir es geschafft haben, uns dieser Spaltung zu widersetzen, war eine Leistung, die sich gelohnt hat.
Ich weise vorsichtshalber darauf hin, daß ich hier keinen Anspruch auf vollständige Aufzählung aller Aufgaben der Freidenkerbewegung erhebe, und ich die Aufgaben, die ich nicht genannt habe, nicht etwa für gegenstandslos halte. Selbstverständlich bleiben Aufgaben wie Interessenvertretung Nichtreligiöser und – wie es in Deutschland heißt – Konfessionsfreier, Forderung der Trennung von Staat und Kirche, Weiterentwicklung weltlicher Fest- und Trauerkultur und manches andere bestehen. Nur sollte es nie isoliert betrieben werden, man muß von der Welt, in der es geschieht, ein deutliches Bild haben.
Ich bin überzeugt, daß die Freidenkerbewegung, wenn sie den genannten Aufgaben gerecht wird und sich ein zeitgemäßes Selbstverständnis aneignet, in der gegenwärtigen Umbruchphase eine wichtige Rolle spielt und erheblich an Bedeutung und Größe gewinnen wird.
Sebastian Bahlo