Rüdiger Rauls. Referat am Kongress vom 14. September 2019 in Esch s. A.
Internationalismus als Ausdruck von Klassenbewusstsein
Internationalismus ist eine der Säulen der klassenbewussten Arbeiterbewegung. Sein Inhalt ist die internationale Solidarität. Die Spaltung der Arbeiterklasse in verschiedene nationale Arbeiterbewegungen galt es zu überwinden und sich gegenseitig in den national geführten Kämpfen zu unterstützen. Dieses proletarische Klassenbewusstsein mit seinem Internationalismus hat sich weitgehend aufgelöst, wenn auch die Arbeiterklasse als gesellschaftliche Formation objektiv immer noch besteht.
Der herrschenden Klasse ist es durch Faschismus und anschließende Sozialpartnerschaft gelungen, dieses Bindeglied der Arbeiter der Welt untereinander zu zerschlagen. Mit der Auflösung der Sowjetunion und dem Niedergang des Sozialismus sowjetischer Prägung ist der Internationalismus weitgehend aus der politischen Auseinandersetzung verschwunden. Seitdem ist die Arbeiterklasse national wie international ohne Bewusstsein ihrer besonderen Stellung als Klasse und ist damit führungslos und richtungslos den Interessen des Kapitals ausgeliefert. Die Grenzenlosigkeit des proletarischen Internationalismus ist ersetzt worden durch das unbegrenzte Walten des Kapitals über alle nationalen Grenzen hinweg.
Migration als Strategie des Kapitals
Der Kapitalismus hat eine neue Stufe der Globalisierung erreicht. Er hat nicht nur den Waren- und Kapitalaustausch internationalisiert sondern auch die Arbeitskraft. Deren globale Nutzung erfolgt entweder durch Investitionen in den Ländern, in denen sich die geeignete Arbeitskraft und Märkte befinden, oder durch Anwerbung. Dabei wechseln die Arbeitskräfte ihren Wohnort nicht nur national sondern auch international.
Nach dem 2. Weltkrieg war der Bedarf an Arbeitskraft besonders in den Industriestaaten Mitteleuropas als Folge von Kriegszerstörungen und Wiederaufbau stark gewachsen. Der Zuzug von Arbeitskräften aus den weniger entwickelten Ländern Südeuropas und der Türkei war im Interesse des mitteleuropäischen Kapitals. Dieser Zuzug war durch zwischenstaatliche Verträge geregelt. Ansonsten war internationale Migration weitgehend eingeschränkt durch das System nationaler Grenzen.
Das änderte sich mit der Schaffung des Schengen-Raums. In seinen Grenzen können sich die Menschen ohne Kontrollen frei bewegen. Diese Bewegungsfreiheit vereinfachte und förderte die Freizügigkeit von Arbeitskräften. Anders als bei den staatlichen Abkommen fanden nun Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu einander auf der Basis bestimmter Qualifikationen. Hatten staatliche Abkommen die Mengen an Arbeitskräften geregelt, so entscheiden nun die Qualifikationen der Arbeitskräfte über den Zugang zu den Arbeitsmärkten innerhalb der EU-Staaten entsprechend den Bedürfnissen der Unternehmen. Damit war Migration wesentlich effektiver geworden.
Das Jahr 2015
Die Flüchtlingswelle traf die europäischen Regierungen organisatorisch und ideologisch unvorbereitet. Niemand hatte mit einer Völker-Bewegung von solcher Wucht gerechnet. Die Hilflosigkeit der Regierungen sah aus wie Zustimmung zur unkontrollierten Einwanderung. Dieser Eindruck wurde verstärkt durch eine Willkommenskultur, die sich anfangs in der Öffentlichkeit ausbreitete und von den Medien zunächst stark befeuert worden war. Später wurde dann gerade wieder von den Medien die Kehrtwende eingeleitet, besonders von der Springer-Presse, die vermutlich damit ihre Auflagen steigern konnte.
Die Willkommenskultur war aber nichts anderes als Ausdruck dieser oben angesprochenen Hilflosigkeit und Kompromiss zugleich. Denn die europäischen Regierungen standen einerseits unter dem Druck der Ereignisse und andererseits unter dem Druck der eigenen Werteorientierung, die sie seit Jahrzehnten als Leitmotiv ihres eigenen politischen Handels ausgegeben und zum Gradmesser der Rechtmäßigkeit anderer Regierungen erklärt hatten.
Da man sie nicht verhindern konnte, versuchte man besonders in Deutschland die Flüchtlingswelle zu idealisieren. Denn es gab unterhalb der Schwelle der Gewaltanwendung keine Möglichkeit, diese Bewegung aufzuhalten. Das wurde deutlich aus den Äußerungen von Gysi (Die LInke) und von Storch (AfD) zu den möglichen Reaktionen auf dieses Problem. Während Gysi als Linker erklärte, dass man hilflos sei, da man die Leute ja nicht an der Grenze niederschießen könne, schloss von Stroch als Rechte gerade das nicht aus, indem sie den Einsatz von Waffen an der Grenze forderte.
Politische Deutung
Die Deutung der Flüchtlingskrise ist bei weiten Kreisen der Linken und Rechten ähnlich. Beide suchen Schuldige statt sich auf die Analyse der Vorgänge zu konzentrieren.
Die Rechten unterstellen der eigenen Regierung, dem eigenen Volk bewusst Schaden zufügen zu wollen zugunsten der Neuankömmlinge oder Fremden generell. Manchmal werden auch geheimnisvolle, verschworene Kreise hinter den Vorgängen gesehen, die aber nicht benannt werden können. In beiden Fällen ist die Absicht, das deutsche Volk, manchmal auch die ganze Welt zu versklaven und mit volksfremden Elementen zu durchmischen, bis die deutsche Identität (was immer das auch sein mag) vollkommen verloren ist und die Deutschen Fremde im eigenen Land sind.
Auch große Teile der Linken sehen geheime Kräfte am Werk, beziehungsweise das Kapital allgemein. Auch deren Absicht ist nach Ansicht vieler Linken die Unterwerfung der Menschheit zu billigen Lohnsklaven zwecks Profitsteigerung. Auch wo nicht so scheinbar kapitalismuskritisch argumentiert wird, geht es immer um den Versuch „des Kapitals“, den Markt mit billiger Arbeitskraft zu überschwemmen. Dabei dienen der Staat und seine Regierungen dem Kapital als willfährige Erfüllungsgehilfen.
Diese Sichtweise mag sich klassenkämpferisch und radikal anhören, ist aber durch die Wirklichkeit nicht gedeckt. Der linken Bewegung aber muss es darum gehen, die Vorgänge zu verstehen und verständlich zu machen. Dabei muss die Wirklichkeit der Lackmustest jeder Theorie sein. Wenn die Theorien über die Wirklichkeit im Widerspruch stehen zur Wirklichkeit selbst oder sich an ihr nicht bewahrheiten, läuft die Linke Gefahr, als unglaubwürdig oder weltfremd in der Öffentlichkeit dazustehen. Das kann die Linke sich nicht leisten und gilt es deshalb unter allen Umständen zu vermeiden, will sie nicht noch mehr Ansehen und Einfluss in der Bevölkerung verlieren. Jede Theorie, die sich nicht an der Wirklichkeit bewahrheitet, ist falsch.
Analyse der Interessen
Die Regierungen Europas und nicht nur dort sind nicht die willfährigen Erfüllungsgehilfen des Kapitals, wie es oftmals in linken Kreise und Portalen dargestellt und gerne gesehen wird. Gewiss: Sie verwalten die bestehende kapitalistische Ordnung im Interesse des Kapitals. Daran besteht kein Zweifel. Das bedeutet aber auch, dass sie im Interesse der gesellschaftlichen Stabilität mitunter auch den Interessen des Kapitals in den Arm fallen (müssen).
Bezüglich der Flüchtlingskrise bedeutete das, dass das Kapital auf jeden Fall das Interesse am Zuzug der Flüchtlinge hatte, zumal wenn es sich dabei um qualifizierte Leute handelte wie syrische Ärzte, Ingenieure und ähnliche. Nicht umsonst verfolgte die deutsche Wirtschaft noch am längsten von allen gesellschaftlichen Gruppen eine teure Werbekampagne zur Integration und Wertschätzung der Flüchtlinge unter dem Motto „Wir(tschaften) zusammen“. Während sich die deutsche Wirtschaft die besten Fachkräfte zu ihrem individuellen Vorteil aus dem Zustrom herauspicken konnte, wurden die Kosten der Flüchtlingswelle auf die gesamte Gesellschaft in Deutschland abgewälzt.
Aber andererseits stellten sich die europäischen Regierungen auch den Interessen der Wirtschaft entgegen. So wendeten sie alle Möglichkeiten auf, um den Zustrom zu unterbinden, was sie nicht täten, wären sie nur Vollstrecker von Kapitalinteressen. In Europa selbst wurden Zäune errichtet und Grenzkontrollen wieder eingeführt, was zu erheblichen Spannungen zwischen den Staaten der EU geführt hatte und keineswegs im Interesse besonders des deutschen Kapitals war.
Milliarden teure Abkommen wurden getroffen mit Mittelmeer-Anrainern, um die Flüchtlinge in deren Länder zurück und von den Grenzen der EU fernzuhalten. Im Innern Afrikas wurden Initiativen mithilfe der Europäischen Union ins Leben gerufen, die die Flüchtlinge schon vor den zum Teil zerrütteten Mittelmeer-Staaten wie Libyen aufhalten sollten. Im Mittelmeer patrouillieren EU-Kriegsschiffe zusammen mit den Marinen der Anrainer, um Flüchtlinge am Überqueren des Meeres zu hindern. Flüchtlingslager wurde im Norden Afrikas und der Türkei eingerichtet und zum Teil mit EU-Geldern finanziert und damit verhindert, dass sie auf der anderen Seite des Mittelmeers den Profitinteressen des Kapitals hätten zur Verfügung stehen können.
All diese Maßnahmen verschlingen viel Geld und sind sicherlich nicht im Interesse des Kapitals, wenn es dessen Ansinnen war, eine Flüchtlingswelle loszutreten, um Europa mit billigen Arbeitskräften zu fluten. Die Menschen in Afrika aber folgten nicht dem Ruf des Kapitals. Sie folgten ihren eigenen Interessen und die lauten: Flucht aus der Armut und Hoffnungslosigkeit. Wenn sie in ihren Ländern eine Lebensgrundlage hätten, würden die meisten ihre Heimat nicht verlassen.
Linke Flüchtlingspolitik
Kaum eine andere Frage wie die Einstellung zu den Flüchtlingen hat die Partei Die Linke in Deutschland so sehr zerrissen und die Linke insgesamt. Und an kaum einer anderen Frage ist die politische Unfähigkeit von beiden so offenbar geworden. Die Linke wollte mitreden, glaubte mitreden zu müssen, weil sie sich einbildete, einen Beitrag zur Lösung des Flüchtlingsproblems leisten zu können oder zu müssen. Am Ende hatten sie nichts erreicht, als dass sie heillos untereinander zerstritten waren.
Dabei hatte sie doch gar keine Handlungsmöglichkeit. Weder konnte sie auf die Flüchtlinge einwirken, in ihrer Heimat zu bleiben, noch hatte sie die politische Macht, Entscheidungen im Inland zu treffen und umzusetzen. Sie wollte naseweis sein und den anderen zeigen, dass sie es besser kann. Sie wollte sich in der Öffentlichkeit mit den besseren Vorschlägen, Theorien und Modellen als eine Alternative im Politikbetrieb anbieten. Sie glaubte, klüger zu sein als die Regierungsparteien und erkennt anscheinend bis heute nicht, dass es nicht um Klugheit sondern um Macht geht. Nun steht sie vor den Trümmern ihrer Selbstüberschätzung und kämpft im Westen wieder mit der 5%-Hürde.
Dabei wäre die einzig sinnvolle Politik der Partei Die Linke wie auch der Linken insgesamt gewesen, immer wieder in den Diskussionen zur Flüchtlingskrise auf die Verursacher der Krise hinzuweisen. Internationalistische Politik wäre gewesen, immer wieder deutlich zu machen, dass die Flüchtlingskrise Ergebnis der Einmischung und Kriege ist, die der Westen in Afghanistan, im Irak, in Syrien und vielen anderen Ländern der islamischen Welt führt oder unterstützt.
Es wäre internationalistische Pflicht gewesen, immer wieder und bei jeder Gelegenheit das Ende von Krieg und Einmischung zu fordern und das nicht nur von den Rednerpulten der Parlamente sondern auf Demonstrationen und Veranstaltungen, die die Linke zu diesem Thema im ganzen Land hätte organisieren müssen. Sie hätte die Mittel dazu – finanziell wie auch organisatorisch.
Und es wäre klassenbewusste Politik der Linken gewesen, der eigenen Bevölkerung klar zu machen, dass diese Krise doppelt zu ihren Lasten geht. Denn die deutsche Bevölkerung trägt einerseits die Kosten für Unterbringung und Versorgung der Menschen, aber andererseits auch die Kosten der Kriege, die zu dieser Fluchtbewegung führten. Das macht sich zwar nicht in Steuererhöhungen bemerkbar, aber in den Einschränkungen im Alltag bzw im Ausbleiben notwendiger Verbesserungen.
Es fehlen Zehntausende von Wohnungen und Kindergartenplätzen angeblich aus Geldmangel. Es fehlt an Ärzten und Pflegepersonal. Schulen und Straßen verrotten, weil Kommunen das Geld nicht haben für die Ausbesserungen. Theater, Schwimmbäder, Jugendeinrichtungen werden geschlossen aus denselben Gründen. Dort fehlen die Milliarden, die für Kriege überall in der Welt ausgegeben werden. Über die Erhöhung der Rüstungsausgaben wird kaum gestritten in den Regierungen.
Als es nach der Bankenrettung um die Erhöhung der Hartz-IV-Sätze ging, dauerte der Streit über Wochen und das Ergebnis war ernüchternd für die Betroffenen. Noch vor wenigen Wochen mussten aber im Handumdrehen Milliarden bereitgestellt werden zur Abwicklung der Nord-LB, die die Haushalte der Nord-Bundesstaaten zusätzlich belastete. Trotzdem werden keine Anstrengungen unterlassen, das 2%-Ziel der NATO zu erfüllen, zur Milderung der Wohnungsnot ist das Geld nicht da.
Diese Widersprüche hätte die Linke offenlegen und verstärkt in die politische Diskussion hineintragen müssen und sie müsste es immer noch. Aber nicht nur das, sie müsste auch nach Wegen suchen, den Unmut zu organisieren, anstatt dies der AfD zu überlassen. Gute Artikel und Vorträge alleine verändern die Welt nicht, es muss auch gehandelt werden.